Kann eine Betreibung fortgesetzt werden, bevor die Rechtsöffnung definitiv geworden ist?

BGer 5A_190/2023* vom 3.8.2023 E. 6.3.3 und E. 6.4

Art. 166 Abs. 2 SchKG ; Art. 239, Art. 325 Abs. 1 ZPO - IM DISPOSITIV UND DANN IN VOLLSTÄNDIGER AUSFERTIGUNG ZUGESTELLTER PROVISORISCHER RECHTSÖFFNUNGSENTSCHEID – VORAUSSETZUNGEN UND ZEITPUNKT, ZU DENEN DIE RECHTSÖFFNUNG ZUR FORTSETZUNG DER BETREIBUNG BERECHTIGT

[Zeitpunkt, in dem die 15-monatige Frist für das Konkursbegehren (Art. 166 Abs. 2 SchKG) nach einem provisorischen Rechtsöffnungsentscheid wieder läuft]. (E. 5) Die Fortsetzung der Betreibung und die Zustellung einer Konkursandrohung setzen einen vollstreckbaren Entscheid voraus, in dem der Rechtsvorschlag beseitigt wird. (E. 6.3.3) Der Entscheid eines Rechtsöffnungsrichters ist mit Beschwerde anfechtbar (Art. 319 lit. a i.V.m. Art. 309 lit. b Ziff. 3 ZPO), die als ausserordentliches Rechtsmittel die Vollstreckung des angefochtenen Entscheids nicht hemmt; zudem erwächst dieser Entscheid mit seinem Erlass in formelle Rechtskraft (vgl. Art. 325 Abs. 1 ZPO; BGer 5A_375/2022 vom 31.8.2022 E. 5.1.4.2). Ein Rechtsöffnungsentscheid wird mit seiner Zustellung an die Parteien vollstreckbar, es sei denn, die mit einer Beschwerde befasste Rechtsmittelinstanz würde die Vollstreckbarkeit durch Gewährung der aufschiebenden Wirkung aussetzen (Art. 325 Abs. 2 und 336 Abs. 1 lit. a ZPO), wobei der Entscheid einzig seine formelle Rechtskraft behält (zit. BGer 5A_375/2022 E. 5.1.4.2). Folglich kann der Gläubiger ab der Zustellung des Rechtsöffnungsentscheids die Fortsetzung der Betreibung verlangen und eine Konkursandrohung zustellen lassen (BGer 5A_78/2017 vom 18.5.2017 E. 2.2), unabhängig davon, ob es sich um eine provisorische oder um eine definitive Rechtsöffnung handelt, selbst wenn gegen diesen Entscheid eine Beschwerde eingelegt worden ist, es sei denn, die Beschwerdeinstanz hätte der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt (Art. 325 Abs. 2 ZPO; BGer 5A_703/2018 vom 1.5.2019 E. 4.3 [Verwertungsbegehren; provisorische Rechtsöffnung]; 5A_78/2017 vom 18.5.2017 E. 2.2 m.H.). Wird die aufschiebende Wirkung von der Beschwerdeinstanz gewährt, entfaltet sie Wirkung ex tunc, was die Rechtsfolgen einer Konkursandrohung hemmt, auch wenn diese zuvor rechtsgültig erstellt worden ist (BGE 130 III 657 E. 2.1 und 2.2; BGer 5A_77/2021 vom 1.3.2022 E. 3.3). Da der Gläubiger ab der Zustellung des Rechtsöffnungsentscheids eine Konkursandrohung zustellen lassen kann, steht die Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG gegebenenfalls mit der Einreichung der Aberkennungsklage bis zum rechtskräftigen Entscheid über diese Klage nochmals still. Soweit im Urteil 5A_579/2022 vom 1.5.2023 eine andere Auffassung geäussert wird (E. 4.1 und 4.2), kann diese nicht als solche übernommen werden. (E. 6.4) Es bleibt noch zu klären, ob unter «Zustellung des Rechtsöffnungsentscheids» die Zustellung des blossen Dispositivs oder jene des ordnungsgemäss begründeten Entscheids zu verstehen ist. (E. 6.4.1) Das BGer hat bereits entschieden, dass ein von einer zweitinstanzlichen kantonalen Behörde gefällter Entscheid, der den Parteien einzig im Dispositiv eröffnet worden ist, vor seiner Zustellung in vollständiger Ausfertigung nicht vollstreckt werden kann. Dieser Entscheid beruht auf einer analogen Anwendung von Art. 112 Abs. 2, 3. Satz BGG (BGE 142 III 695 E. 4.2.1). Einige Autoren sind der Meinung, dieser Grundsatz sei analog auch auf Entscheide erstinstanzlicher Behörden anzuwenden. Das Waadtländer Kantonsgericht und das Obergericht des Kantons Zürich neigen dazu, diesem Ansatz zu folgen. (E. 6.4.2) Gemäss einem anderen Teil der Lehre sind erstinstanzliche Entscheide, gegen die kein Rechtsmittel mit automatischer aufschiebender Wirkung offen steht, bereits mit der Zustellung des blossen Dispositivs vollstreckbar. Auch die Praxis einiger Kantone geht in diese Richtung. Mehrere Autoren schlagen vor, die Gefahr, dass solche Entscheide vor Beginn der Rechtsmittelfrist vollstreckt werden, dadurch zu verringern, indem die Parteien bereits bei der Eröffnung des Dispositivs bei der Rechtsmittelinstanz in analoger Anwendung von Art. 263 ZPO die Anordnung vorsorglicher Massnahmen beantragen und so noch vor der Zustellung des begründeten Entscheids die Aussetzung der Vollstreckbarkeit des Entscheids erwirken können. (E. 6.4.3) Die aktuellen Divergenzen zwischen den kantonalen Praktiken werden jedoch aufgrund der am 17.3.2023 verabschiedeten Änderung der ZPO wegfallen: Ein ohne schriftliche Begründung eröffneter Entscheid ist vollstreckbar, wenn er rechtskräftig ist und das Gericht die Vollstreckbarkeit nicht aufgeschoben hat (Art. 336 Abs. 1 Bst. a revZPO, in dem auf Art. 315 Abs. 4, 325 Abs. 2 und 331 Abs. 2 revZPO verwiesen wird), oder wenn er noch nicht rechtskräftig ist, jedoch die vorzeitige Vollstreckbarkeit bewilligt worden ist (Art. 336 Abs. 1 lit. b revZPO). Die Rechtsmittelinstanz kann die Vollstreckbarkeit eines erstinstanzlichen Entscheids, der bloss in Form eines Dispositivs eröffnet wurde, vor der Einreichung des Rechtsmittels aufschieben. (E. 6.4.4) Bei heutiger Rechtslage erscheint es nicht bundesrechtswidrig, wenn das Kantonsgericht nicht auf das Dispositiv des Rechtsöffnungsentscheids, sondern auf das ordnungsgemäss begründete Urteil abgestellt hat, um den Zeitpunkt zu bestimmen, in dem der Stillstand der Frist gemäss Art. 166 Abs. 2 SchKG endete – wobei dieser Zeitpunkt dem Datum entsprechen muss, an dem das Rechtsöffnungsurteil vollstreckbar geworden ist (vgl. oben E. 6.3.2 i.f.).

2023-N13 Kann eine Betreibung fortgesetzt werden, bevor die Rechtsöffnung definitiv geworden ist?
Bem. F. Bastons Bulletti

1 Der Fall, dem das BGer sein zur Veröffentlichung vorgesehenes Urteil gewidmet hat, betrifft in erster Linie die Berechnung der in Art. 166 Abs. 2 SchKG vorgesehenen Maximalfrist von 15 Monaten für das Konkursbegehren. Diese Frist wird durch die Zustellung des Zahlungsbefehls ausgelöst, aber «[i]st Rechtsvorschlag erhoben worden, so steht diese Frist zwischen der Einleitung und der Erledigung eines dadurch veranlassten gerichtlichen Verfahrens still». Wie das BGer in Erinnerung ruft (E. 5 des Urteils m.H.), ist unter einem «gerichtlichen Verfahren» ein Verfahren zu verstehen, das auf die Beseitigung des Rechtsvorschlags abzielt, d.h. ein Schuldanerkennungsprozess (Art. 79 und 279 SchKG), ein Verfahren der provisorischen oder definitiven Rechtsöffnung (Art. 80–83 SchKG), aber auch ein Aberkennungsprozess (Art. 83 Abs. 2 SchKG) oder ein Verfahren um Feststellung (fehlenden) neuen Vermögens (Art. 265a SchKG), oder weiter ein Beschwerdeverfahren, das gegen die Konkursandrohung eingeleitet wurde und mit aufschiebender Wirkung versehen wird (BGE 136 III 152 E. 4.1). Unter «Erledigung eines (…) Verfahrens» ist ein vollstreckbarer gerichtlicher Entscheid zu verstehen (vgl. E. 5 des Urteils m.H.; vgl. auch unten N 4-5).

2 Im vorliegenden Fall hatte der Gläubiger die provisorische Rechtsöffnung beantragt und erhalten. Da sein Rechtsöffnungsgesuch den Lauf der 15-monatigen Frist unterbrochen hatte (oben N 1), stellte sich die Frage, wann genau die Frist wieder zu laufen begonnen hatte. Der Rechtsöffnungsentscheid war zunächst im Dispositiv und dann in vollständiger Ausfertigung eröffnet worden, und es war in der Folge weder eine Beschwerde noch eine Aberkennungsklage eingereicht worden. Das Kantonsgericht erwog, dass die Frist mangels Beschwerde oder Aberkennungsklage 20 Tage nach Versand der vollständigen Ausfertigung des Rechtsöffnungsentscheids, nämlich nach Ablauf der Frist von Art. 83 Abs. 2 SchKG für die Erhebung einer Aberkennungsklage (vgl. E. 6.3.3 des Urteils, letzter Absatz), erneut zu laufen begonnen hatte. Das BGer entschied im Gegenteil, dass die Frist bereits an dem im kantonalen Urteil nicht erwähnten Datum der Zustellung des begründeten provisorischen Rechtsöffnungsentscheids, das dem Zeitpunkt entsprach, in dem der provisorische Rechtsöffnungsentscheid vollstreckbar geworden war (oben N 1), wieder zu laufen begonnen hatte.

3 Das BGer hat damit zwei Fragen beantwortet:

4 Die erste (E. 6.3 des Urteils) betrifft den Zeitpunkt, in dem die Betreibung fortgesetzt werden kann, wenn die provisorische Rechtsöffnung erteilt worden ist. Denn dieser Zeitpunkt entspricht jenem, in dem die 15-monatige Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG, die während des Rechtsöffnungsverfahrens stillstand, erneut zu laufen beginnt (s. E. 6.3.2 des Urteils). Aus seiner Rechtsprechung, wonach die Betreibung fortgesetzt werden kann, sobald der Rechtsöffnungsentscheid vollstreckbar wird (oben N 1), und aus der Erwägung, dass ein provisorischer Rechtsöffnungsentscheid, der nur der Beschwerde ohne automatische aufschiebende Wirkung unterliegt (Art. 309 lit. b Ziff. 3 und Art. 319 ff., 325 ZPO), ab seiner Zustellung sofort vollstreckbar ist, leitet das BGer ab, dass die provisorische Rechtsöffnung dazu berechtigt, die Fortsetzung der Betreibung zu beantragen, sobald der Entscheid, mit dem sie verfügt wird, zugestellt worden ist. Für die Fortsetzung der Betreibung ist somit nicht erforderlich, dass die Rechtsöffnung definitiv (geworden) ist. Das BGer präzisiert, dass die Betreibung – und damit die Möglichkeit, deren Fortsetzung zu beantragen, ebenso wie die Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG – gegebenenfalls erneut stillsteht, wenn eine Beschwerde eingelegt und ihr aufschiebende Wirkung gewährt wird (Art. 325 Abs. 2 ZPO), oder wenn, gegebenenfalls nach Abweisung einer derartigen Beschwerde, eine Aberkennungsklage eingereicht wird (E. 6.3.2 des Urteils; vgl. auch E. 5, oben N 1). Wurde zuvor eine Handlung zur Fortsetzung der Betreibung (wie die Zustellung einer Konkursandrohung) rechtsgültig vorgenommen, werden deren Wirkungen bis zum Entscheid über diese Beschwerde und/oder diese Klage gehemmt (vgl. E. 6.3.3 des Urteils m.H. Die Lösung einer Aufhebung dieser Handlung, die im Urteil BGer 5A_579/2022 vom 1.5.2023 E. 4.3.3 und 4.4 gegeben wurde [vgl. Anm. unter Art. 325 Abs. 2, 2. und in Newsletter 2023-N12], scheint mit dem vorliegenden Urteil nicht vereinbar zu sein, vgl. auch unten N 6b).

5 Da das einzige Rechtsmittel gegen den provisorischen oder definitiven Rechtsöffnungsentscheid keine aufschiebende Wirkung hat (Art. 325 Abs. 1 ZPO), kann kaum bestritten werden, dass dieser Entscheid mit seiner Zustellung und nicht erst mit Ablauf der Beschwerdefrist bzw. – im Fall einer Beschwerde – mit dem Entscheid über diese Beschwerde formell vollstreckbar wird (was genau unter «Zustellung» zu verstehen ist, vgl. unten N 7). Er ist somit auch während des Laufs der Frist für die Aberkennungsklage (20 Tage ab Zustellung des Entscheids, Art. 83 Abs. 2 SchKG und BGE 143 III 38 E. 2.3, Anm. unter Art. 325 Abs. 1) vollstreckbar. Dennoch kann die Betreibung noch stillstehen, und zwar nicht nur, wenn der Betriebene gegen den Rechtsöffnungsentscheid Beschwerde einlegt und die aufschiebende Wirkung beantragt und dann ausnahmsweise erhält (Art. 325 Abs. 2 ZPO), sondern vor allem auch, ex lege, wenn eine Aberkennungsklage gemäss Art. 83 Abs. 2 SchKG eingereicht wird. Die Betreibung kann dann nicht fortgesetzt werden, bevor die Beschwerde und/oder die Aberkennungsklage abgewiesen worden ist.

6 Es stellt sich daher die Frage, ob es für die Fortsetzung der Betreibung genügt, dass der provisorische Rechtsöffnungsentscheid vollstreckbar ist, oder ob es zusätzlich erforderlich ist, dass die Rechtsöffnung definitiv geworden ist, dass also die Frist für die Aberkennungsklage unbenutzt abgelaufen ist oder, falls diese Klage eingereicht wurde, dass sie abgewiesen worden ist (Art. 83 Abs. 3 SchKG). Die diesbezügliche Auffassung des BGer (E. 6.3.1 und 6.3.2 des Urteils), wonach die Betreibung bereits zwischen der Zustellung des provisorischen Rechtsöffnungsentscheids und dem Ende der Frist für die Aberkennungsklage bzw. der Einreichung dieser Klage fortgesetzt werden kann, vermag kaum zu überzeugen.

6a – Art. 166 Abs. 2 SchKG (wie Art. 88 und 154 SchKG, die sich auf die Verwirkungsfrist für die Fortsetzung der Betreibung bzw. die Pfandverwertung beziehen) besagt zwar, dass der Stillstand der Frist (und der Betreibung) aufgrund des Rechtsvorschlags mit der «Erledigung» des Verfahrens endet, ohne zu unterscheiden, ob die Rechtsöffnung definitiv oder nur provisorisch ist. Die vom Bundesgericht zitierte Rechtsprechung, wonach es für die «Erledigung» im Sinn dieser Bestimmung genügt, dass das Urteil, mit dem der Rechtsvorschlag beseitigt wird, vollstreckbar ist, betrifft jedoch nur Fälle, in denen die Rechtsöffnung entweder von vornherein definitiv war (BGE 126 III 479 E. 2a; BGer 5A_78/2017 vom 18.5.2017 E. 2.2) oder im Zeitpunkt, in dem die Fortsetzung der Betreibung beantragt wurde, zweifellos definitiv geworden war (BGE 136 III 152 E. 4.1; BGer 5A_703/2018 vom 1.5.2019 E. 4.1; s. auch BGE 101 III 40 E. 3). Daraus kann somit nicht abgeleitet werden, die Vollstreckbarkeit des Entscheids allein genüge auch dann für die Fortsetzung der Betreibung, wenn die Rechtsöffnung erst provisorisch ist, obwohl diese «Erledigung» des Verfahrens einem Stillstand der Betreibung nicht entgegensteht (oben N 5). Vielmehr zeigt sich, dass die Betreibung während eines Aberkennungsverfahrens deshalb nicht fortgesetzt werden kann, weil die Rechtsöffnung noch nicht definitiv ist (Art. 83 Abs. 3 SchKG; KuKo SchKG-Vock Art. 83 N 1; CR SchKG-Schmid Art. 83 N 4 und N 10 f.). Nun ist aber die Rechtsöffnung während der 20-tägigen Frist nach der Zustellung des provisorischen Rechtsöffnungsentscheids (erst recht) auch nicht definitiv; es ist daher nicht ersichtlich, weshalb während dieser Zeitspanne die Betreibung dennoch fortgesetzt werden könnte.

6b – Das BGer legt zudem die Gründe nicht dar, aus denen ein vollstreckbarer Entscheid auch dann ausreichen sollte, wenn die Rechtsöffnung nicht definitiv (geworden) ist, um die Betreibung fortsetzen zu können (E. 6.3.1). Es verweist auf einen Präzedenzfall (BGer 5P.259/2006 vom 12.12.2006, ergangen unter dem alten Genfer Prozessrecht, wonach Rechtsöffnungsentscheide mit Beschwerde ohne aufschiebende Wirkung anfechtbar waren), in dem es die gleiche Lösung wie im vorliegenden Fall wählte, ohne sie weiter zu begründen. Es ist nun aber nicht ersichtlich, inwiefern der Umstand, dass der Rechtsöffnungsentscheid ab seiner Zustellung vollstreckbar ist, von vornherein mit sich bringen würde, dass die Betreibung fortgesetzt werden kann, obwohl eine Aberkennungsklage und damit ein Stillstand der Betreibung möglich bleibt. Das BGer verwirft auch die gegenteiligen Meinungen der Lehre (E. 6.3.2 des vorliegenden Urteils), wobei es erwägt, dass sie nicht ausreichend belegt seien, legt aber nicht dar, weshalb die von ihm gewählte Lösung vorzuziehen wäre. Nun wäre aber eine derartige Darstellung umso wünschenswerter, als in einem erst kürzlich ergangenen Urteil (BGer 5A_579/2022 vom 1.5.2023 E. 4.3.3 und E. 4.4, Anm. unter Art. 325 Abs. 2, 2. und in Newsletter 2023-N12) dieselbe Abteilung des BGer – in einer teilweise anderen Zusammensetzung – im Gegenteil erwogen hat (wir übersetzen und heben hervor), dass «der provisorische Rechtsöffnungsentscheid im Gegensatz zur definitiven Rechtsöffnung nur dann vollstreckbar wird, wenn innert 20 Tagen nach seiner Zustellung (Art. 83 Abs. 2 SchKG) keine Aberkennungsklage eingereicht wird, oder diese abgewiesen oder für unzulässig erklärt wird (Art. 83 Abs. 3 SchKG)» (E. 4.1), und dass für die Fortsetzung der Betreibung bei provisorischer Rechtsöffnung «der Betreibende noch nachweisen muss, dass die Frist für die Einreichung der Aberkennungslage unbenutzt verstrichen ist oder die Klage abgewiesen wurde, wodurch die Rechtsöffnung definitiv geworden ist» (E. 4.2, 2. Absatz); in E. 4.3.3 dieses Urteils wiederholt das BGer, dass nach Abweisung der Beschwerde gegen den provisorischen Rechtsöffnungsentscheid die Vollstreckbarkeit dieses Entscheids «noch vom Ausgang einer (allfälligen) Aberkennungsklage abhängt». Diese Erwägungen stehen im klaren Gegensatz zur hier gewählten Lösung. Indem sich das BGer auf den Hinweis beschränkt (E. 6.3.2 des vorliegenden Urteils), dass diese mögliche «andere Position» nicht als solche übernommen werden kann, vermag es auch nicht zu überzeugen.

6c – Geht man schliesslich davon aus, dass die Zustellung eines provisorischen Rechtsöffnungsentscheids bereits ermöglicht, die Fortsetzung der Betreibung zu beantragen, so ist schwerlich einzusehen, weshalb der Gläubiger Sicherungsmassnahmen (provisorische Pfändung oder Güterverzeichnis, Art. 83 Abs. 1 ZPO, die dem Gläubiger zur Verfügung gestellt werden, «gerade weil eine Fortsetzung der Betreibung zum Zwecke der Verwertung noch nicht beantragt werden kann», vgl. BGE 128 III 383 E. 3) ab Zustellung dieses Entscheids (vorausgesetzt, die Zahlungsfrist ist abgelaufen; vgl. BSK SchKG-Staehelin, 3. Aufl. 2021 Art. 83 N 3 und N 5 f.; KuKo SchKG-Vock, 2. Aufl. 2014, Art. 83 N 2) und nicht erst ab der allfälligen Einreichung einer Aberkennungsklage beantragen kann. U.E. erlaubt das Gesetz dem Gläubiger, Sicherungsmassnahmen bereits ab der Bewilligung der provisorischen Rechtsöffnung zu beantragen, und nicht erst dann, wenn eine Aberkennungsklage rechtshängig ist, gerade weil die Betreibung unabhängig von der sofortigen Vollstreckbarkeit dieses Entscheids nicht fortgesetzt werden kann, bevor die Rechtsöffnung definitiv geworden ist. Im Übrigen erscheint es logisch, dass mit Blick auf die Ungewissheit, die im Zeitpunkt der Zustellung eines provisorischen Rechtsöffnungsurteils über das Bestehen der Forderung noch herrscht, und angesichts der Möglichkeit eines Prozesses in der Sache (d.h. einer Aberkennungsklage) der Gesetzgeber die Fortsetzung der Betreibung nicht erlaubt hat, solange die Rechtsöffnung nicht definitiv ist, sondern stattdessen in Art. 83 Abs. 1 SchKG sichernde Massnahmen zugunsten des Gläubigers vorgesehen hat, die beantragt werden können, solange die Rechtsöffnung nur provisorisch ist, und die u.E. einschneidendere Massnahmen zur Fortsetzung der Betreibung ausschliessen. Umgekehrt erlaubt die im vorliegenden Urteil gewählte Lösung dem Gläubiger zwar, zusätzlich die Fortsetzung der Betreibung zu beantragen und damit die Betreibung um 20 Tage zu beschleunigen – was allerdings im Vergleich zur Dauer eines allfälligen Beschwerdeverfahrens mit aufschiebender Wirkung und/oder eines Aberkennungsverfahrens, während denen die Fortsetzung der Betreibung ohnehin nicht möglich ist, kaum ins Gewicht fällt –, bringt aber für den Gläubiger den Nachteil mit sich, dass die Verwirkungsfristen gemäss Art. 166 Abs. 2, Art. 154 Abs. 1 oder 88 Abs. 2 SchKG entsprechend und auf wenig offensichtliche Weise verkürzt werden.

7 Die zweite Frage, die im Urteil behandelt wird (E. 6.4), betrifft den Zeitpunkt, in dem ein zunächst ohne schriftliche Begründung eröffneter Entscheid als zugestellt gilt und – falls es sich um einen Entscheid handelt, der einem Rechtsmittel ohne automatische aufschiebende Wirkung unterliegt – vollstreckbar wird. Das BGer führt aus, dass die Meinungen in der Lehre und Rechtsprechung geteilt sind, sowie dass die Revision der ZPO vom 17. März 2023, die am 1. Januar 2025 in Kraft treten wird, die Frage klärt, indem vorgeschrieben wird, dass ein nicht schriftlich begründeter Entscheid vollstreckbar ist, es sei denn, dem Rechtsmittel würde aufschiebende Wirkung erteilt (Art. 336 Abs. 3 revZPO; ausführlicher vgl. unten, Bem. 2023-N14). Das BGer räumt aber ein, dass die zur im Rahmen der Revision der ZPO gewählten Lösung im Gegensatz stehende Lösung bei heutiger Rechtslage nicht bundesrechtswidrig ist. Das kantonale Gericht durfte also davon ausgehen, dass der provisorische Rechtsöffnungsentscheid erst dann zugestellt worden und somit vollstreckbar geworden ist, wenn den Parteien seine vollständige Begründung zugestellt worden ist.

8 Es ist noch zu betonen, dass sich diese zweite Frage nicht bei Entscheiden stellt, die einem ordentlichen Rechtsmittel unterliegen, das automatisch aufschiebende Wirkung hat (konkret: der Berufung, abgesehen von den in Art. 315 Abs. 4 ZPO genannten Fällen). Denn diese Entscheide werden erst im Zeitpunkt vollstreckbar, in dem die Berufungsfrist unbenutzt verstrichen ist (was voraussetzt, dass die schriftliche Begründung zugestellt wurde, da sonst die Frist nicht einmal zu laufen begonnen hat, vgl. Art. 311 Abs. 1 ZPO), oder, wenn eine Berufung eingelegt wurde, wenn der schriftlich begründete Berufungsentscheid den Parteien zugestellt wird (vgl. BGE 142 III 695 E. 4.2.1, Kritik in Newsletter vom 17.11.2016). Das Gesetz sieht zwar die Möglichkeit vor, diese aufschiebende Wirkung zu entziehen und eine vorzeitige Vollstreckung zu bewilligen (vgl. Art. 315 Abs. 2 und 3 ZPO). Bei heutiger Rechtslage setzt diese Möglichkeit jedoch voraus, dass eine Berufung eingereicht wurde, und somit, dass der schriftlich begründete Entscheid zugestellt wurde (Art. 311 Abs. 1 ZPO; vgl. Art. 315 Abs. 4 lit. a und Abs. 5 revZPO).

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2023-N13, Rz…

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