Verwirkung der Rechtshängigkeit, Verwirkung des materiellrechtlichen Anspruchs und Klageänderung

BGer 4A_459/2020 vom 15.12.2020 E. 3.3 – 3.4

Art. 62, Art. 64 Abs. 2, Art. 209 Abs. 4, Art. 227 ZPO; Art. 273 Abs. 1 OR - VERWIRKUNG DER RECHTSHÄNGIGKEIT UND VERWIRKUNG DES MATERIELLRECHTLICHEN ANSPRUCHS – RECHTSFOLGEN IN BEZUG AUF DIE ZULÄSSIGKEIT EINER KLAGEÄNDERUNG

Erhebt der Mieter innerhalb der in Art. 273 Abs. 1 und 2 OR vorgeschriebenen Frist eine Klage auf Anfechtung der Kündigung und eine Klage auf Erstreckung des Mietverhältnisses und prosequiert er nach Erteilung der Klagebewilligung, indem er nur noch Rechtsbegehren auf Erstreckung des Mietverhältnisses stellt, so endet die durch sein Schlichtungsgesuch begründete Rechtshängigkeit seiner Anfechtungsklage (Art. 209 Abs. 4 ZPO). Er kann daher seine Klage nicht mehr ändern, da seine Anfechtungsklage nicht mehr hängig ist und die Frist nach Art. 273 Abs. 1 OR, die nur 30 Tage beträgt, nun generell abgelaufen ist und ihm nicht mehr erlaubt, eine neue Klage einzureichen. Die Möglichkeiten einer Klageänderung gemäss Art. 227 und 230 ZPO setzen voraus, dass die Klage hängig ist. (E. 3.4) Im vorliegenden Fall wurde die geänderte Klage, die ein Rechtsbegehren auf Anfechtung der Kündigung enthielt, erst nach der Beendigung und damit der Verwirkung der Rechtshängigkeit dieser Klage (Art. 209 Abs. 4 ZPO) und ausserhalb der Frist nach Art. 273 Abs. 1 OR für die Einreichung einer neuen Klage eingereicht. Die geänderte Klage auf Anfechtung der Kündigung war daher unzulässig. Die Unzulässigkeit der geänderten Klage ergibt sich daraus, dass die Rechtshängigkeit der Anfechtungsklage mit Ablauf der Frist von Art. 209 Abs. 4 ZPO geendet hatte und diese Klage nicht durch Klageänderung wirksam wieder eingereicht werden konnte, da die materiellrechtliche Verwirkungsfrist in diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen und damit das materielle Recht erloschen war.

2021-N4 Verwirkung der Rechtshängigkeit, Verwirkung des materiellrechtlichen Anspruchs und Klageänderung
Bem. F. Bastons Bulletti

1 Mit einem innert der Verwirkungsfristen von Art. 273 Abs. 1 und 2 OR eingereichten Schlichtungsgesuch fechten die Mieter die vom Vermieter ausgesprochene Kündigung an und verlangen eine Erstreckung des Mietverhältnisses. Es wird ihnen eine Klagebewilligung erteilt. Innerhalb der 30-tägigen Frist von Art. 209 Abs. 4 ZPO reichen die Mieter ihre Klage beim Mietgericht ein, schliessen darin aber nur noch auf Erstreckung des Mietverhältnisses. Drei Monate später ändern sie ihre Klage, wobei sie primär auf Aufhebung der Kündigung und eventualiter auf Erstreckung des Mietverhältnisses schliessen. Das Gericht und anschliessend der Zivilgerichtshof erklären das Rechtsbegehren auf Aufhebung der Kündigung für unzulässig. Das BGer bestätigt diese Entscheide.

2 Indem sie in ihrem Schlichtungsgesuch zwei Klagen häuften, hatten die Kläger innerhalb der Verwirkungsfristen gemäss Art. 271 Abs. 1 und 2 OR zwei Klagen angehoben (Art. 64 Abs. 2 ZPO). Nur eine dieser Klagen (auf Erstreckung des Mietverhältnisses) wurde innerhalb der in Art. 209 Abs. 4 ZPO vorgeschriebenen Frist prosequiert. Für die andere Klage (Anfechtung der Kündigung) ist die begründete Rechtshängigkeit mangels einer solchen Prosequierung durch Verwirkung erloschen (vgl. E. 3.1.2 des Urteils). Einem neuen Schlichtungsgesuch stünde dies an sich jedoch nicht entgegen: Das Erlöschen der Rechtshängigkeit durch Verwirkung entfaltet keine materielle Rechtskraft (anders als insb. bei einem Klagerückzug i.S.v. Art. 65 und 241 ZPO). Folglich kann die Rechtshängigkeit in Bezug auf den gleichen Streitgegenstand und zwischen denselben Parteien neu begründet werden (vgl. Anm. unter Art. 209 Abs. 3 und 4, insb. BGE 140 III 561 E. 2.2.2.4). Hat eine Partei die Rechtshängigkeit jedoch verwirken lassen, kann diese nur von neuem, mit Wirkung ex nunc, begründet werden; die ursprünglich begründete Rechtshängigkeit ist unwiederbringlich beendet (BGer 4A_671/2016 vom 15.6.2017 E. 2.4, Anm. unter Art. 64 Abs. 2 und in Newsletter vom 14.9.2017; etwas anderes gilt nur für den – hier nicht gegebenen – Fall, dass die Klage aus einem der in Art. 63 ZPO genannten Gründe für unzulässig erklärt oder zurückgezogen wird: Wird die Klage innerhalb der Einmonatsfrist wieder eingereicht, so wird die Rechtshängigkeit rückwirkend auf den Tag der ersten Einreichung der Eingabe wiederhergestellt, vgl. BGer 4A_592/2013 vom 4.3.2014 E. 3.2, Anm. unter Art. 63 Abs. 1, D. und unter Art. 64 Abs. 2).

3 Diese Situation hat keine unmittelbare Auswirkung auf die Verwirkungsfristen des materiellen Rechts (zit. BGer 4A_671/2016 und E. 3.1.2 i.f. des vorliegenden Urteils). Sie kann jedoch schwerwiegende Folgen haben, wenn die Begründung der Rechtshängigkeit zur Wahrung einer solchen Frist die Klageanhebung i.S.v. Art. 64 Abs. 2 ZPO ermöglicht hatte. Denn die Einhaltung der materiellrechtlichen Verwirkungsfrist unterliegt der Bedingung, dass der Kläger die Rechtshängigkeit nicht verwirken lässt (vgl. BGE 140 III 561 E. 2.2.2.4, Anm. unter Art. 209 Abs. 3 und 4). Eine Partei, die im Verfahren nicht prosequiert hat, befindet sich daher in der gleichen Rechtslage, wie wenn sie nie etwas unternommen hätte, um diese Frist zu wahren. Ist diese Frist am Tag der Beendigung der Rechtshängigkeit abgelaufen (was bei kurzen Fristen häufig der Fall ist, z.B. bei der Frist von 30 Tagen nach Art. 271 Abs. 1 OR), ist das materielle Recht verwirkt, und in diesem Fall ist es sinnlos, ein neues Schlichtungsgesuch einzureichen.

4 Da ihnen möglicherweise klar war, dass die Rechtshängigkeit der Anfechtungsklage mit der Unterlassung ihrer Prosequierung geendet hatte und die Frist gemäss Art. 273 Abs. 1 OR nun abgelaufen war, entschieden sich die Kläger, im weiterhin hängigen Verfahren auf Erstreckung des Mietverhältnisses ein Rechtsbegehren auf Aufhebung der Kündigung hinzuzufügen. Sie versuchten damit, die Rechtshängigkeit der Anfechtungsklage wieder aufleben zu lassen, indem sie ihre Klage auf Erstreckung des Mietverhältnisses änderten.

5 Unter dem alleinigen Gesichtspunkt von Art. 227 ZPO, der sich auf die Klageänderung bezieht, war dieses Vorgehen u.E. an sich zulässig. Die Voraussetzungen der Identität der anwendbaren Verfahrensarten (vereinfachtes Verfahren, vgl. Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO) und des sachlichen Zusammenhangs mit der rechtzeitig eingereichten und prosequierten Klage auf Erstreckung des Mietverhältnisses waren erfüllt; zudem war die örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts a priori gegeben. Zwar war die Vorbedingung des Schlichtungsversuches (Art. 197 ZPO) in Bezug auf das neue Rechtsbegehren auf Aufhebung der Kündigung nicht mehr erfüllt, da die Klagebewilligung mangels Prosequierung innerhalb der Frist von Art. 209 Abs. 4 ZPO verwirkt war. Erfüllt die Klageänderung jedoch die in Art. 227 Abs. 1 ZPO aufgestellten Bedingungen (nämlich die Identität der anwendbaren Verfahrensart und der sachliche Zusammenhang mit dem bisherigen Anspruch oder die Zustimmung der Gegenpartei), ist ein vorgängiger Schlichtungsversuch nicht erforderlich (s. Anm. unter Art. 227 Abs. 1 und 2, C.1.; insb. BGer 4A_222/2017 vom 8.5.2018 E. 4.1.2, Bem. M. Heinzmann in Newsletter vom 23.8.2018; s. auch PC CPC- Heinzmann/Clément Art. 227 N 19).

6 Das BGer hält jedoch fest (E. 3.3 i.f. des Urteils), dass ein Mieter, der nicht für die Anfechtungsklage, sondern nur in Bezug auf die Erstreckung des Mietverhältnisses prosequiert hat, «daher seine Klage nicht mehr ändern [kann], da seine Anfechtungsklage nicht mehr hängig ist», und fügt hinzu, dass «[d]ie Möglichkeiten einer Klageänderung gemäss Art. 227 und 230 ZPO [voraus]setzen, dass die Klage hängig ist». U.E. ist diese Aussage zumindest zweideutig. Damit wird angedeutet, dass ein Anspruch, für den die Rechtshängigkeit verwirkt ist, niemals auf dem Wege einer Klageänderung wieder eingereicht werden könnte, und dies auch nicht in einem Fall, in dem die materiellrechtliche Verwirkungsfrist im Zeitpunkt der Klageänderung noch nicht abgelaufen ist – oder wenn die Klage keiner Verwirkungsfrist unterliegt. Nun impliziert aber eine Klageänderung eine Änderung des Streitgegenstands; diese kann insb. in Form eines neuen Anspruchs erfolgen (vgl. Anm. unter Art. 227 Abs. 1 und 2, B., z.B. BGer 4A_439/2014 vom 16.2.2015 E. 5.4.3.1; AppGer/BS vom 6.2.2019 (ZB.2018.7) E. 1.2.2; PC CPC-Heinzmann/Clément Art. 227 N 1 f.). Setzt die Klageänderung selbstverständlich voraus, dass für einen Streitgegenstand ein Verfahren hängig ist, kann also durch die Einreichung der geänderten Klage Rechtshängigkeit (Art. 62 Abs. 1 ZPO) für einen anderen Streitgegenstand (der grundsätzlich mit dem bisherigen Streitgegenstand in einem sachlichen Zusammenhang steht und der gleichen Verfahrensart unterliegt) begründet werden, für den das Verfahren eben nicht bereits hängig ist. Daher ist es – entgegen dem, was im Urteil zum Ausdruck gebracht zu werden scheint – nicht ausgeschlossen, durch eine Klageänderung einen Streitgegenstand ins Verfahren einzuführen, für den die Klage noch nicht (oder nicht mehr) hängig ist. Es ist daher (unter Vorbehalt eines offensichtlichen Rechtsmissbrauchs, Art. 52 ZPO) nicht einzusehen, was dagegen sprechen würde, dass ein Streitgegenstand, für den nicht prosequiert wurde (wobei diese Unterlassung nicht die materielle Rechtskraft eines Klagerückzugs entfaltet, vgl. N 2 oben), im Prozess mittels Änderung einer bereits hängigen Klage wieder eingeführt wird, wenn die Voraussetzungen von Art. 227 ZPO erfüllt sind und das angerufene materielle Recht inzwischen nicht verwirkt ist. Der Ansicht des BGer zufolge wäre der Kläger in einem solchen Fall gezwungen, erneut einen – bereits gescheiterten – Schlichtungsversuch zu beantragen und dann eine separate Klage einzureichen, dessen mögliche Vereinigung mit der ersten Klage vom richterlichen Ermessen abhängen würde (Art. 125 lit. c ZPO). Mit Blick auf den sachlichen Zusammenhang der geänderten Klage mit der bisherigen oder die Zustimmung der Gegenpartei, die gemäss Art. 227 Abs. 1 lit. a und b ZPO eben vorausgesetzt werden, erfordert nun aber die Verfahrens- und Mittelökonomie, dass über beide Ansprüche gemeinsam entschieden wird.

7 Dieser Aussage des BGer ist u.E. jene vorzuziehen, die es in einem anderen, vergleichbaren Fall formuliert hat (vgl. BGer 5D_171/2017 vom 24.4.2018 E. 2.3.2, Anm. unter Art. 227 Abs. 1 und 2, A., betreffend die Erhöhung des Rechtsbegehrens im Rahmen einer Kollokationsklage, welche gemäss Art. 250 Abs. 1 SchKG ebenfalls einer Verwirkungsfrist unterliegt): Für den neuen, durch eine Klageänderung – an sich gültig – eingeführten Streitgegenstand (im vorliegenden Fall die Anfechtung der Kündigung) entsteht die Rechtshängigkeit erst am Tag der Einreichung der geänderten Klage, ohne Rückwirkung auf den Tag der Einreichung der bisherigen Klage (die im vorliegenden Fall auf Erstreckung des Mietverhältnisses lautete). Ist in diesem Zeitpunkt das in der geänderten Klage geltend gemachte materielle Recht verwirkt, so ist die Klage nicht mit Blick auf Art. 227 ZPO, sondern aus einem anderen Grund unzulässig, nämlich wegen Versäumung der gesetzlichen Klagefrist, d.h. der Verwirkung des angerufenen Rechts (zur Unzulässigkeit der Klage in diesem Fall, die deren Abweisung vorzuziehen ist, vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2, F.; vgl. auch BGer 4A_171/2008 vom 22.5.2008 E. 1.2). Es ist also der Ablauf der Verwirkungsfrist nach Art. 273 Abs. 1 OR – und nicht die Unzulässigkeit der Klageänderung –, der im vorliegenden Fall den Klägern nicht mehr erlaubt, die Kündigung anzufechten.

8 So konnten die Mieter, nachdem sie rechtzeitig (mit Blick auf Art. 209 Abs. 4 ZPO) bloss eine Klage auf Erstreckung des Mietverhältnisses eingereicht hatten, weder ein neues Schlichtungsgesuch (N 2 oben) noch ein neues Rechtsbegehren auf Aufhebung der Kündigung im Verfahren auf Erstreckung des Mietverhältnisses stellen (N 7 oben). Auch wenn das Verfahrensrecht an sich das eine oder das andere Vorgehen zulässt, steht in beiden Fällen der Ablauf der materiellrechtlichen Verwirkungsfrist nach Art. 273 Abs. 1 OR einer erneuten Anfechtungsklage entgegen. Da das materielle Recht erloschen ist, kann es nicht mehr geltend gemacht werden, was das Sachgericht von Amtes wegen feststellen muss (Art. 57 und Art. 60 ZPO).

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2021-N4, Rz…

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