Falsche Rechtsmittelbelehrung: Der Anwalt muss die veröffentlichte Rechtsprechung kennen… vor allem, wenn das Gericht sie übersieht

BGer 4A_573/2021 vom 17.5.2022 E. 4

Art. 238 lit. f, Art. 52 - FEHLERHAFTE RECHTSMITTELBELEHRUNG – AUFGRUND DER LEKTÜRE DER KÜRZLICH VERÖFFENTLICHTEN RECHTSPRECHUNG ERKENNBARER FEHLER – VERWEIGERUNG DES VERTRAUENSSCHUTZES FÜR DIE ANWALTLICH VERTRETENE PARTEI

[Beschwerde gegen einen Entscheid um Abweisung eines Ausstandgesuchs (Art. 50 Abs. 2 ZPO) – fehlerhafte gerichtliche Rechtsmittelbelehrung – verspätete Beschwerde] Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Frist für die Beschwerde gegen einen Ausstandsentscheid allein aus der Lektüre des Gesetzestexts ergibt. Die Rechtsprechung, die das Kriterium der Gesetzeslektüre heranzieht, wonach den «in den BGE» veröffentlichten Urteilen keine Bedeutung für die Beurteilung des guten Glaubens zukommt, kann jedoch nicht ohne weiteres übernommen werden, ohne die konkreten Umstände zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall wurde gerade diese Frage der Beschwerdefrist kürzlich durch BGE 145 III 469 geklärt. Dieser ist sehr klar in Bezug auf die Beschwerdefrist von zehn Tagen, die im Übrigen sogar explizit in der Regeste erwähnt wird. Dieser BGE wurde in der amtlichen Sammlung der Bundesgerichtsentscheide mehr als ein Jahr vor dem Erlass des angefochtenen Entscheids veröffentlicht. Nun muss aber der Anwalt unter dem Gesichtspunkt der Anwaltshaftung nach ständiger Praxis die veröffentlichte Rechtsprechung kennen. Durch ihren Vertreter musste die Beschwerdeführerin die einschlägige Rechtsprechung kennen, die in diesem Zeitpunkt bereits in der oben genannten Sammlung veröffentlicht worden war. Vom Gegenteil auszugehen wäre mit der Rechtsprechung zur Anwaltshaftung unvereinbar. So hätte die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin eine grobe Kontrolle der Rechtsmittel vornehmen und die falsche Rechtsmittelbelehrung erkennen müssen. Da sie die aufgrund der Umstände gebotene Aufmerksamkeit nicht aufgebracht hat, kann sie sich nicht auf den Vertrauensschutz berufen. 

2022-N15 Falsche Rechtsmittelbelehrung: Der Anwalt muss die veröffentlichte Rechtsprechung kennen… vor allem, wenn das Gericht sie übersieht
Bem. F. Bastons Bulletti


1 In seinem Entscheid auf Abweisung eines Ausstandsgesuchs gibt das Gericht an, der Entscheid könne innert einer Frist von 30 Tagen angefochten werden. Zu Unrecht: Nach der veröffentlichten Rechtsprechung beträgt die Beschwerdefrist zehn Tage (BGE 145 III 469 E. 3.2-3.3, vgl. Anm. unter Art. 50 Abs. 2 und in Newsletter 2019-N26). Innerhalb der angegebenen Frist, aber nach Ablauf der zehntägigen Frist, reicht eine der Parteien, anwaltlich vertreten, eine Beschwerde ein. Diese wird für verspätet und folglich für unzulässig erklärt. Die Partei legt Beschwerde beim BGer ein und beruft sich auf ihr Vertrauen in die Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Gerichts. Das BGer räumt ein, dass sich die Frist für die Anfechtung eines Ausstandsentscheids nicht aus der blossen Lektüre des Gesetzestextes ergebe, weist die Beschwerde aber aufgrund der Umstände des konkreten Falles dennoch ab.

2 Das Gericht ist verpflichtet, seinen Entscheid mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen (Art. 238 lit. f ZPO). Diese Belehrung, die den Rechtsmittelweg und die Beschwerdefrist umfasst, ist an den Einzelfall anzupassen (BGer 4A_475/2018 vom 12.9.2019 E. 5.1 und 5.2 n.v. in BGE 145 III 469, Anm. unter Art. 238 lit. f und in Newsletter 2019-N26; auch BGer 4D_32/2021 vom 27.10.2021 E. 5.2).

3 Grundsätzlich darf ein möglicher Irrtum den Parteien nicht zum Nachteil gereichen. Dieser Grundsatz gilt jedoch nur für jenen, der weder – direkt oder durch seinen Rechtsvertreter – von dieser Unrichtigkeit wusste, noch sie bei gebührender Aufmerksamkeit erkennen konnte. Der Vertrauensschutz wird somit jener Partei verweigert, die grob fahrlässig gehandelt hat, was sich nach den konkreten Umständen und nach ihren Rechtskenntnissen beurteilt (BGE 135 III 374 E. 1.2.2.1 m.H., Anm. unter Art. 52, C.c.).

4 Ist eine Partei anwaltlich vertreten, erweisen sich in der Praxis die Anforderungen an den Vertrauensschutz als hoch: Zwar wird vom Rechtsvertreter einzig eine sog. «Grobkontrolle» der Rechtsmittelbelehrung erwartet. So ist der Schutz grundsätzlich nur dann ausgeschlossen, wenn eine Lektüre der anwendbaren Verfahrensbestimmungen den Fehler erkennen lassen würde. Umgekehrt ist der Schutz zu gewähren, wenn der Fehler einzig durch Konsultierung der – selbst veröffentlichten – Rechtsprechung oder der Lehre erkannt werden konnte (vgl. Anm. ibid., insb. BGE 138 I 49 E. 8.3.2 und 8.4; BGE 141 III 270 E. 3.3). Dennoch impliziert einerseits die vom Anwalt erwartete Lektüre nötigenfalls ein systematisches Vorgehen, bei dem mehrere gesetzliche Bestimmungen kombiniert werden (vgl. zit. BGE 141, ibid.). Andererseits wird der Vertrauensschutz mitunter auch dann verweigert, wenn der Fehler nicht aufgrund der Lektüre der gesetzlichen Bestimmungen erkennbar ist, sofern der Anwalt angesichts der konkreten Umstände in der Lage sein musste, diesen Fehler zu erkennen (vgl. BGer 5A_706/2018 vom 11.1.2019 E. 3.3, Anm. ibid. und in Newsletter 2019-N14 [Fall, in dem der Beschwerdeführer selbst die Rechtsprechung zitiert hatte, aus der sich die anwendbare Beschwerdefrist ergab]; BGer 4A_475/2018 vom 12.9.2019 E. 5.2 n.v. in BGE 145 III 469, Anm. ibid. und in Newsletter 2019-N26 [Fall, in dem der Anwalt in derselben Sache bereits einen identischen Entscheid mit Beschwerde angefochten hatte, wobei er selbst die Beschwerdefrist korrekt angegeben hatte]).

5 Das vorliegende Urteil geht noch weiter, indem dem Anwalt der Vertrauensschutz unter Berücksichtigung der kürzlich erfolgten Veröffentlichung eines sehr klaren Urteils über die Beschwerdefrist gegen Ausstandsentscheide in der amtlichen Sammlung der BGE (BGE 145 III 469, oben N 1), verweigert wird. Im Gegensatz zu den beiden zuvor zitierten Fällen (BGer 5A_706/2018 und BGer 4A_475/2018, oben N 4) stellte das BGer, obwohl es auf die «konkreten Umstände» verwies (E. 4, 3. § des Urteils), nicht fest, dass der Anwalt im vorliegenden Fall die einschlägige Rechtsprechung tatsächlich kannte, sondern es hielt fest, dass er sie kennen musste, weil ihn seine Sorgfaltspflicht dazu verpflichtete. Obwohl das BGer formell darauf hinweist, dass vom Rechtsanwalt nicht verlangt wird, dass er zur Überprüfung einer Rechtsmittelbelehrung noch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachschlägt (oben N 4 und E. 3 des Urteils), wirft es ihm im vorliegenden Fall doch eine solche Pflichtverletzung vor.

6 An sich ist die Anforderung, dass der Rechtsanwalt die (auch neuere) veröffentlichte Rechtsprechung kennen muss, nicht neu (vgl. BGE 134 III 534 E. 3.2). Sie ist Teil der Pflichten des Anwalts gegenüber seinem Mandanten und findet Anwendung, wenn es darum geht, dessen Haftung gegenüber dem Mandanten zu beurteilen. In diesem Rahmen ist sie keineswegs übertrieben. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht darum, ob der Rechtsanwalt seine Sorgfaltspflicht gegenüber seinem Mandanten verletzt hat, sondern darum, ob er gegenüber der Behörde, die ihm einen fehlerhaften Hinweis gegeben hat, in gutem Treuen handelt, sodass sein Vertrauen geschützt werden muss. In dieser Hinsicht ist die (veröffentlichte, vgl. zit. BGE 138 und 141, oben N 4) Rechtsprechung aber klar: Vorbehältlich besonderer Umstände (etwa wenn erstellt ist, dass der Anwalt die vom Gericht übersehene Rechtsprechung kennt oder sogar anwendet, sodass er den Irrtum erkennen musste, vgl. BGE 138 und 141, oben N 4), wird vom Rechtsanwalt in Bezug auf die vom Gericht gemachten Angaben gerade nicht erwartet, dass er Rechtsprechung und Lehre besser kennt als der Richter. Er kann sich daher auf seinen guten Glauben berufen, wenn er sich ungeprüft auf eine Angabe verlassen hat, die jenen zuwiderläuft. Indem das BGer hier dem Rechtsanwalt den Vertrauensschutz mit der Begründung verweigert, er könne nicht gutgläubig eine veröffentlichte, klare und aktuelle Rechtsprechung übersehen, widerspricht es diesen Grundsätzen, ohne dass erkennbar wäre, inwiefern die Veröffentlichung eines «klaren» Urteils in den BGE einen besonderen, dem vorliegenden Fall eigenen Umstand darstellen würde, aufgrund dessen sich diese Abweichung aufdrängen würde. Vielmehr könnte diese Urteilsbegründung ebenso gut jedem Anwalt entgegengehalten werden, der sich einfach auf die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung verlassen hat, nachdem er die von ihm verlangte summarische Kontrolle des Gesetzestextes (oben N 4) vorgenommen hat. Somit läuft die gewählte Lösung entgegen der diesbezüglichen Rechtsprechung letztlich darauf hinaus, dass die Rechtsanwälte verpflichtet sind, die Rechtsmittelbelehrung in jedem Fall nicht nur anhand des Gesetzes, sondern auch anhand der veröffentlichten Rechtsprechung zu überprüfen. 

7 U.E. gehen diese Anforderungen zu weit, und kommen letztlich einem Rollentausch gleich. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist es Aufgabe des Gerichts – das die veröffentlichte Rechtsprechung ebenfalls kennen sollte –, für eine korrekte Rechtsmittelbelehrung zu sorgen (oben N 2), und es ist nicht Aufgabe des Rechtsanwalts, in alle Richtungen nachzuforschen, ob die Angaben richtig sind, im Unterlassungsfall auf die Gefahr hin, dass sein Mandant die Folgen eines – statistisch unvermeidbaren – Irrtums des Richters trägt. Diese Lösung führt zudem zu Unsicherheiten, da der Anwalt zuweilen berechtigte Bedenken haben kann, ob eine veröffentlichte Rechtsprechung auf den konkreten Fall anwendbar ist oder nicht. Die Nuancen sind manchmal subtil, vor allem, wenn sie sich aus späteren Urteilen ergeben. In diesem Fall müsste der Anwalt aus Gründen der Vorsicht eine Rechtsschrift verfassen, die mit beiden möglichen Rechtsmitteln (Berufung und Beschwerde) vereinbar ist, und/oder sie innerhalb der kürzesten in Frage kommenden Frist einreichen, was jedoch zu Lasten ihrer Qualität geht. Es ist ihm umso mehr zu empfehlen, sich mit diesem Vorgehen abzufinden, als ihm nach ständiger Rechtsprechung grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden wird, die eine Umwandlung der Eingabe ausschliesst, wenn er letztlich zu Unrecht ein anderes als das vom Gericht angegebene Rechtsmittel wählt (vgl. Anm. unter Art. 132 Abs. 1 B.b.b., z.B. BGer 5A_46/2020 vom 17.11.2020 E. 4.1.2, Bem. in Newsletter 2021-N6 Nr. 2; auch BGer 5A_221/2018 vom 4.6.2018 E. 3.3.2).

8 Im Rahmen der laufenden Revision der ZPO hat auch die Justizkommission des Nationalrates auf diese allgemeine Strenge der Rechtsprechung hingewiesen und sie als übertrieben bezeichnet. Sie schlug einen neuen Art. 52a ZPO vor, den der Nationalrat in seiner Sitzung vom 10.5.2022 angenommen hat (vgl. AB 2022 N 670 f., 673 und 687 f.). Die Bestimmung zielt unter der Marginalie «Auslegung des Gesetzes und Vertrauensschutz» auf einen uneingeschränkten Schutz der Rechtsuchenden ab und lautet: «(Abs. 1) Die Gerichte legen die Verfahrensregeln unter Berücksichtigung des Zugangs der Parteien zur Justiz aus. (Abs. 2) Falsche Rechtsmittel- und Fristbelehrungen in einem Entscheid oder einer prozessleitenden Verfügung nach diesem Gesetz sind gegenüber allen Gerichten wirksam.» Folgt man diesem Entwurf, der der heutigen Praxis diametral widerspricht, hätten die Rechtsanwälte keine Kontrollpflicht mehr. Das Vertrauen in eine falsche Rechtsmittelbelehrung wäre systematisch zu schützen – zweifellos unter Vorbehalt des offensichtlichen Rechtsmissbrauchs (Art. 52 ZPO), dessen Anwendung jedoch die Ausnahme bleiben muss.


9 Zu beachten ist zudem, dass gemäss den Gesetzgebungsarbeiten des Nationalrates die Aufzählung der dem summarischen Verfahren unterstellten Fälle in Art. 249, 250, 251, 251a und 305 ZPO abschliessend werden soll, indem der Ausdruck «insbesondere» gestrichen wird (vgl. AB 2022 N 672 und 708 f.). So dürfte gemäss der Justizkommission der Ausstand (Art. 47–50 ZPO) nicht mehr dem summarischen Verfahren unterliegen (AB 2022 N 672, Votum Lüscher). Folglich könnte die Frist zur Einreichung der in Art. 50 Abs. 2 ZPO vorgesehenen Beschwerde von zehn auf 30 Tage verlängert werden (Art. 321 Abs. 1 ZPO). Denn gemäss dem oben zitierten BGE 145 III 469 (oben N 1) rechtfertigt in Ausstandsfällen nur die Anwendung des summarischen Verfahrens die Beschwerdefrist von zehn Tagen (Art. 321 Abs. 2 ZPO): Der angefochtene Entscheid ist keine (ebenfalls innert zehn Tagen anfechtbare, vgl. Art. 321 Abs. 2 ZPO) prozessleitende Verfügung, sondern ein «anderer Entscheid» i.S.v. Art. 319 lit. b Ziff. 1 ZPO (vgl. oben zit. BGE 145 und Bem. in Newsletter 2019-N26 Nr. 9). Sollte die vorgeschlagene Norm verabschiedet werden, werden die Gerichte und die Prozessparteien gut beraten sein, die Übergangsbestimmungen zu prüfen, um die längere Frist nicht zu früh anzuwenden. Zitationsvorschlag: F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2022-N15, Rz…
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