Die anwendbare Verfahrensart bei der Änderung eines in einem Scheidungsurteil festgelegten Unterhaltsbeitrags für ein minderjähriges Kind

BGer 5A_880/2020 vom 4.1.2022 E. 2.3

Art. 134 Abs. 3 und Art. 286 Abs. 2 ZGB ; Art. 284 Abs. 3, Art. 295 ZPO - ABÄNDERUNG DES IN EINEM SCHEIDUNGSURTEIL FESTGESETZEN KINDESUNTERHALTSBEITRAGS – RECHTSNATUR DES VERFAHRENS (VERFAHREN UM ÄNDERUNG DES SCHEIDUNGSURTEILS UND NICHT SELBSTÄNDIGES VERFAHREN) – RECHTSFOLGEN (ANALOGE ANWENDUNG DER VORSCHRIFTEN ÜBER DIE SCHEIDUNGSKLAGE)

[In einem Scheidungsurteil festgelegter Kindesunterhaltsbeitrag – vom Kind mit selbständiger Klage (Art. 295 ZPO), der ein Schlichtungsverfahren vorausging, beantragte Änderung – Wohnsitzwechsel des Kindes zwischen der Erteilung der Klagebewilligung und der Einreichung seiner Klage beim Gericht – Nichteintretensentscheid]. (E. 2.3.1 und 2.3.5) Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass für die Abänderung von in einem Scheidungsurteil festgesetzten Kindesunterhaltsbeiträgen das Abänderungsverfahren  gilt (vgl. E. 2.1 [Art. 134 Abs. 3 ZGB und Art. 284 Abs. 3 ZPO]). Es werden keine überzeugenden Argumente dafür vorgetragen, dass dem Kind die Abänderung über den Weg der selbständigen Unterhaltsabänderungsklage [und somit das für diese selbständige Klage geltende vereinfachte Verfahren mit vorherigem Schlichtungsversuch, Art. 295 ZPO] hätte offenstehen sollen. (E. 2.3.3) Ebenso wie auch die selbständige Unterhalts(abänderungs)klage [durch den Elternteil] in Prozessstandschaft geführt werden kann (vgl. BGE 145 III 393 E. 2.3 und E. 2.7), steht es dem Kind umgekehrt auch mit der Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils offen, in eigenem Namen zu klagen (Art. 134 Abs. 2 i.V.m. Art. 286 Abs. 2 ZGB). Zwar hielt das BGer in BGE 142 III 153 E. 2.4 fest, das Kind sei in eherechtlichen Verfahren nicht Partei. Diese Aussage bezog sich indessen auf ein Scheidungsverfahren, in welchem sich (nur) die Ehegatten als Parteien gegenüberstanden, und nicht auf das vom Kind für seinen Unterhalt angestrengte Abänderungsverfahren. (E. 2.3.4) Hat sich der anwaltlich vertretene Kläger bewusst für den Weg der selbständigen Klage mit vorgängigem Schlichtungsversuch entschieden, kann eine Pflicht des Gerichts verneint werden, das Schlichtungsgesuch als Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils entgegenzunehmen. Zudem hat mangels Erfordernis eines Schlichtungsversuchs im Verfahren auf Abänderung eines Scheidungsurteils keine perpetuatio fori durch das Schlichtungsgesuch begründet werden können. 2022-N7 Die anwendbare Verfahrensart bei der Änderung eines in einem Scheidungsurteil festgelegten Unterhaltsbeitrags für ein minderjähriges Kind Bem. F. Bastons Bulletti 1 Ein – durch seine Mutter vertretenes – minderjähriges Kind klagt gegen seinen Vater auf Erhöhung des Unterhaltsbeitrags, der für es im Scheidungsurteil seiner Eltern festgelegt und zuvor durch Vereinbarung geändert worden ist. In der Überzeugung, ein selbständiges  Verfahren i.S.v. Art. 295 ZPO einzuleiten, reicht das Kind zunächst ein Schlichtungsgesuch und nach Erteilung der Klagebewilligung eine Klage beim Gericht ein. In der Zwischenzeit ist das Kind jedoch umgezogen und nicht mehr im Sprengel des angerufenen Gerichts wohnhaft. Im erstinstanzlichen Verfahren und danach im Berufungsverfahren wird seine Klage für unzulässig erklärt. Das BGer bestätigt diesen Entscheid. 2 Gemäss Art. 295 ZPO unterliegt ein selbständiges Verfahren über Kinderbelange – wie eine eigenständige Klage auf (Abänderung des) Unterhalt(s) – dem vereinfachten Verfahren; ihm geht in der Regel ein Schlichtungsverfahren voraus (Art. 197 ZPO). Für ein Verfahren um Änderung eines Scheidungsurteils gelten hingegen die Vorschriften über die Scheidungsklage (Art. 290–293 ZPO) sinngemäss (Art. 284 Abs. 3 ZPO). Daraus folgt, dass im ersten Fall die Rechtshängigkeit (Art. 62 ZPO) durch ein Schlichtungsgesuch begründet wird, während sie im zweiten Fall durch die Einreichung einer Klage beim Gericht ohne vorherigen Schlichtungsversuch entsteht (Art. 290 ZPO). Da die örtliche Zuständigkeit ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit erhalten bleibt (perpetuatio fori, Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO), ist die Klage im vorliegenden Fall nur zulässig, wenn die Rechtshängigkeit vor dem Wohnsitzwechsel des Klägers begründet worden ist. Dies setzt voraus, dass das Schlichtungsgesuch die Rechtshängigkeit begründet hat, was wiederum voraussetzt, dass der Schlichtungsversuch erforderlich war; nun ist dies aber nur der Fall, wenn sich der Prozess um Änderung des Unterhalts für das minderjährige Kind als selbständiges Verfahren i.S.v. Art. 295 ZPO interpretieren lässt. Geht man hingegen davon aus, dass es sich um ein Verfahren auf Änderung des Scheidungsurteils i.S.v. Art. 284 ZPO handelt, kann ein vom Gesetz nicht vorgeschriebenes vorgängiges Schlichtungsgesuch keine Rechtshängigkeit begründen und somit auch keine örtliche Zuständigkeit perpetuieren. Die später eingereichte Klage, die erst die Rechtshängigkeit begründet, ist unzulässig, wenn das angerufene Gericht im Zeitpunkt ihrer Einreichung nicht zuständig ist. 3 Im vorliegenden Fall war also die Frage von Bedeutung, ob sich ein Verfahren, das (einzig) auf die Änderung des in einem Scheidungsurteil festgelegten Unterhaltsbeitrags für ein minderjähriges Kind abzielt, als Verfahren um Änderung des Scheidungsurteils oder als selbständiges Änderungsverfahren auffassen lässt. Die Antwort, die das BGer in einer Fünferbesetzung gibt, ist klar: Gemäss Art. 134 Abs. 3 ZGB ist das für die Abänderung des Scheidungsurteils zuständige Gericht im Falle einer Uneinigkeit dafür zuständig, den im Scheidungsurteil festgelegten Kindesunterhaltsbeitrag zu ändern. Das BGer leitet daraus ab, dass das Gesetz somit die Anwendung der für die Änderung des Scheidungsurteils (Art. 284 ZPO) vorgesehenen Verfahrensart vorschreibt, wobei es keine Rolle spielt, ob es im Prozess (wie im vorliegenden Fall) einzig um den Kindesunterhalt geht, ohne dass eherechtliche Punkte in Frage gestellt würden. Auch der Umstand, dass dem Kind im Scheidungsverfahren, das zur Regelung des nun fraglichen Unterhalts führte, keine Parteistellung zukam und dass sich im Abänderungsprozess nicht die Ex-Ehegatten, sondern ein Elternteil und das Kind gegenüberstehen, steht der Anwendung der für die Abänderung des Scheidungsurteils vorgesehenen Verfahrensart nicht entgegen: Unter Berufung auf Art. 286 Abs. 2 ZGB, auf den Art. 134 Abs. 2 ZGB für die Änderung eines Scheidungsurteils über die Kinderbelange verweist, anerkennt das BGer, dass das minderjährige Kind die Abänderung des Scheidungsurteils betreffend seinen Unterhalt sowohl in seinem eigenen Namen als – durch seinen gesetzlichen Vertreter oder nötigenfalls durch einen Vertreter i.S.v. 299 ZPO vertretene – Partei als auch durch seinen in eigenem Namen, aber für das Kind als Prozessstandschafter handelnden (vgl. dazu Anm. unter Art. 67 Abs. 2 B.) sorgeberechtigten Elternteil einklagen kann. 4 Diese Lösung überzeugt uns zumindest im Ergebnis: Würde man davon ausgehen, dass die Klage selbständig i.S.v. Art. 295 ZPO ist, wenn sie nur den Kindesunterhalt betrifft, würde die in concreto anwendbare Verfahrensart von den in Frage gestellten Punkten des Scheidungsurteils abhängen. Dies könnte zu Komplizierungen führen, insb. zum Risiko paralleler Verfahren und widersprüchlicher Entscheide, was eine harmonische Anpassung der Scheidungsfolgen nicht begünstigen würde. Richtig ist hingegen – wie der Beschwerdeführer hervorhebt (E. 2.3.2 des Urteils) –, dass diese Lösung mit sich bringt, dass das Abänderungsverfahren auf unterschiedliche Weise zu führen ist, je nachdem, ob der Beitrag für das Kind in einem Scheidungsurteil oder in einem unabhängigen Verfahren auf Kindesunterhalt festgelegt wurde. Im ersten Fall gelten die Vorschriften über die Scheidungsklage sinngemäss (Art. 284 Abs. 3 ZPO; Art. 290 ff. ZPO); im zweiten Fall ist gemäss Art. 295 ZPO die vereinfachte Verfahrensart (Art. 244 ff. ZPO) mit vorherigem Schlichtungsverfahren (Art. 197 ZPO) anwendbar. Dies ist jedoch zu relativieren: Letztlich besteht der einzige nennenswerte Unterschied zwischen den beiden Verfahren darin, dass im zweiten die Schlichtung vor der Einreichung der Klage versucht werden muss (diese Vorbedingung soll zudem im Rahmen der laufenden Revision der ZPO abgeschafft werden: vgl. 198 Abs. 1 bbis E -ZPO vom 26.2.2020, BBl 2020, 2790, und Botschaft, BBl 2020, 2753, wonach das Schlichtungsverfahren «bei Klagen über den Unterhalt von Kindern und weitere Kinderbelange» nicht stattfindet), während im Verfahren um Änderung des Scheidungsurteils die Schlichtung nach Einreichung der Klage versucht wird (diese Lösung ergibt sich aus dem hier angefochtenen kantonalen Urteil; Frage offen gelassen in BGer 5A_306/2012 vom 14.11.2012 E. 3 i.f., Anm. zu Art. 284 Abs. 3, 1.), deren Begründung zunächst fakultativ ist (Art. 290 und 291 analog). Die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Änderung sind identisch (Art. 286 Abs. 2 ZGB), ebenso – und vor allem –die im Prozess anwendbaren Verfahrensmaximen: Da es sich um familienrechtliche Angelegenheiten handelt, gilt in beiden Fällen die strikte Untersuchungsmaxime (Art. 296 Abs. 1 ZPO) und die Offizialmaxime (Art. 296 Abs. 3 ZPO). Daraus folgt, dass das Kind in beiden Verfahren letztlich von gleichwertigen rechtlichen Ausgestaltungen profitiert (zum Gerichtsstand der Klage – Art. 23 oder 26 ZPO – vgl. jedoch BGer 5A_90/2021 vom 1.2.2022 E. 2.4, E. 3.1, 3.1.6 und 3.2 und Bem. 2022-N8, unten). 5 Auch wenn dies im Urteil nicht erwähnt wird, muss die gewählte Lösung auch dann gelten, wenn es um die Änderung des in einem anderen eherechtlichen Verfahren – wie z.B. in einem Eheschutzverfahren oder in einem Verfahren um vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren – festgelegten Kindesunterhaltsbeitrags geht. Auch hier gilt u.E. die für die Änderung dieses Entscheids vorgesehene Verfahrensart (nämlich das Summarverfahren gemäss Art. 271 ff. ZPO i.V.m. Art. 179, 176 Abs. 3 und 286 Abs. 2 ZGB) und nicht die für eine selbständige Klage vorgesehene vereinfachte Verfahrensart gemäss Art. 295 ZPO, selbst wenn die strittige Änderung nur diesen Beitrag betrifft (gl.M.: D. Summermatter, Zur Abänderung von Kinderalimenten, FamPra.ch 1/2012, 38 ff., 43, Fn. 30). U.E. kann das Kind jedoch nicht Hauptpartei in diesem Abänderungsverfahren sein, das seinen in Wesentlichen ehelichen Charakter beibehält. Entweder tritt der sorgeberechtigte Elternteil für das Kind als Prozessstandschafter auf, oder das Kind wird i.S.v. Art. 299 ZPO vertreten (zu den Voraussetzungen dieser Vertretung vgl. BGE 145 III 393 E. 2.7.2, Anm. unter Art. 299, A. und in Newsletter 2019-N25). Das Verfahren findet dann ohne vorherigen Schlichtungsversuch statt (Art. 198 lit. a ZPO), wird durch ein blosses Gesuch eingeleitet (Art. 252 ZPO) und unterliegt weiterhin der Untersuchungs- und Offizialmaxime (Art. 296 Abs. 1 und 3 ZPO). 6 Im Urteil (E. 2.3.4) wird schliesslich die Frage nach der Weiterleitung des Schlichtungsgesuchs – das insofern unzulässig ist, als im Verfahren um Änderung eines Scheidungsurteils kein vorgängiger Schlichtungsversuch stattfindet (oben N 4; Art. 284 Abs. 3 i.V.m. Art. 198 lit. c ZPO) – durch die Schlichtungsbehörde an den zur Änderung des Scheidungsurteils zuständigen Richter behandelt. Der Kläger hatte im vorliegenden Fall eindeutig einen vorgängigen Schlichtungsversuch verlangt, und die Schlichtungsbehörde behandelte sein Gesuch als solchen; sie betrachtete dieses nicht von Amtes wegen als eine Klage auf Änderung des Scheidungsurteils, d.h. als eine Klage, der eine Schlichtungsverhandlung folgen und nicht vorausgehen sollte, und leitete es daher nicht an den für die Änderung des Scheidungsurteils zuständigen Richter weiter. Das BGer sieht darin keine Rechtsverletzung, betont aber, dass die Offizialmaxime (Art. 296 Abs. 3 ZPO; oben N 4) nur dann gilt, wenn ein zulässiges Gesuch eingereicht worden ist. Dieser Lösung ist zuzustimmen: Einerseits ist es grundsätzlich nicht Aufgabe der Schlichtungsbehörde, ihre Zuständigkeit oder die Prozessvoraussetzungen zu prüfen (vgl. Anm. unter Art. 202 Abs. 1). Andererseits steht diese Lösung im Einklang mit der Rechtsprechung, wonach die Weiterleitung des bei einer unzuständigen Behörde eingereichten Gesuchs von Amtes wegen oder dessen Behandlung nach dem vorgeschriebenen Verfahren jedenfalls ausgeschlossen ist, wenn feststeht, dass der Kläger seine Klage gerade durch den angerufenen Spruchkörper und in der von ihm gewählten Verfahrensart beurteilt haben möchte (BGer 4A_332/2015 vom 10.2.2016 E. 4.4.2, Anm. unter Art. 63 Abs. 1 A.a.). Dem Kläger hat hingegen die Möglichkeit, im Anschluss an den Nichteintretensentscheid seine Klage unter den Voraussetzungen von Art. 63 ZPO beim zuständigen Richter nach der richtigen Verfahrensart erneut einzureichen, wobei die durch seine erste Klage begründeten Rechtshängigkeit gewahrt wird (vgl. Anm. unter Art. 63 Abs. 1, D, insb. BGE 145 III 428 E. 3.5 und 4.4 zum Fall, dass der Kläger zu Unrecht ein Schlichtungsgesuch eingereicht hat). 7 Das BGer bestätigte daher, dass das Schlichtungsgesuch, das im Verfahren um Änderung des Scheidungsurteils unzulässig war, das das Kind hätte einreichen müssen, keine Rechtshängigkeit begründen und somit den Gerichtsstand nicht festlegen konnte. Die Klage, die das Kind daraufhin beim Gericht eingereicht hatte, obwohl es inzwischen sein Wohnsitz gewechselt hatte, war somit ebenfalls unzulässig. Zitationsvorschlag: Bem. F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2022-N7, Rz…
LinkedIn
Twitter
Facebook
Email

Zugang zur ZPO Online

Ein praktisches und effizientes Arbeitstool

ZPO Online Kurzkommentar

Die Urteile sind in Ihrer Sprache zusammengefasst und Artikel für Artikel in ihrem Kontext präsentiert. Eine SucheUne recherche vous permet de trouver rapidement une solution à une question concrète. Ein ZPO Online Abonnement gibt Ihnen einen uneingeschränkten Zugang zu den Annotationen sowie zu den fast täglichen Aktualisierungen..

Suche
Letzte Veröffentlichungen
Blog Newsletter

Bleiben Sie auf dem Laufenden zu den letzten kostenlosen Veröffentlichungen unseres Blogs.

Newsletter du Blog CPC

Le Blog CPC publie régulièrement un arrêt commenté, extrait de la newsletter envoyée aux abonnés du CPC Online.

Inscrivez-vous gratuitement

Vous recevrez un email plusieurs fois par an pour vous annoncer la dernière publication du Blog CPC.

Pour en profiter, il vous suffit de remplir le formulaire d’inscription

Newsletter CPC Annoté Online
Le CPC Online mobile
​La newsletter du CPC Online est optimisée pour l’ordinateur, la tablette et le Smartphone.

Inscription gratuite à la newsletter

Veuillez SVP remplir ce formulaire pour recevoir la newsletter du du Blog CPC, gratuitement et sans engagement.