Geltendmachung eines Mangels der Vorladung: Anforderungen und Rechtsfolgen

BGer 5A_75/2018 vom 18.12.2018 E. 2.3

Art. 134, 52, 56 - NICHTEINHALTUNG DER VORLADUNGSFRIST - PFLICHT ZUR SOFORTIGEN REAKTION – GRENZEN DER RICHTERLICHEN FRAGEPFLICHT

Alle am Zivilprozess beteiligten Personen haben nach Treu und Glauben zu handeln (Art. 52 ZPO; vgl. weiter Art. 5 Abs. 3 BV). Sie sind daher gehalten, verfahrensrechtliche Einwendungen so früh wie möglich vorzubringen, mithin bei erster Gelegenheit nach Kenntnisnahme des Mangels. Ansonsten können sie diese nicht mehr erheben (BGE 143 V 66 E. 4.3; 140 I 271 E. 8.4.3; 135 III 334 E. 2.2). Dies gilt auch für die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BGE 138 III 97 E. 3.3.2; BGer 1C_114/2016 vom 9.6.2016 E. 2.1; 5A_121/2013 vom 2.7.2013 E. 4.2). Die Lehre zu Art. 134 ZPO – diese Bestimmung regelt die Frist zur gerichtlichen Vorladung einer Partei im Zivilprozess – geht denn auch davon aus, dass eine Missachtung der Vorladungsfrist “geheilt” bzw. “genehmigt” wird, wenn die betroffene Person trotz verspäteter Vorladung zu einer Verhandlung erscheint und vorbehaltslos an dieser teilnimmt. Keine vorbehaltslose Teilnahme liege vor, wo die Partei zu Beginn der Verhandlung zu Protokoll gebe, sie habe sich nicht genügend vorbereiten können und behalte sich weitere Stellungnahmen vor (vgl. etwa BSK ZPO- Brändli/Bühler, 3. Aufl. 2017, Art. 134 N 12 ; BK ZPO-Frei Art 134 N 9 ; Brunner/Gasser/Schwander, 3. Aufl. 2017, Art. 134 N 10 ; M. Kumschick, Handkommentar Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], 2010, N. 4 zu Art. 134 ZPO; ZPO-Komm Staehelin, 3. Aufl. 2016,  Art. 134 N 4). (E. 2.4) Zwar hat der Beschwerdeführer am Verhandlung kund getan, dass die Vorladung seiner Ansicht nach sehr kurzfristig erfolgte.  Hierin kann aber nicht die (sinngemässe) Rüge erblickt werden, er habe sich nur ungenügend auf die Verhandlung vorbereiten können und er würde sich weitere Stellungnahmen vorbehalten: Eine genügende Vorbereitung kann auch dort möglich sein, wo die Vorladung kurzfristig erfolgt. Das Gericht durfte die Äusserung des Beschwerdeführers daher so verstehen, dass er mit der Weiterführung der Verhandlung einverstanden war, zumal er ausdrücklich keine Einwände gegen den in Aussicht gestellten Verfahrensablauf erhob. Dementsprechend ist es unter Verfassungsgesichtspunkten nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht zum Schluss gelangt, der Beschwerdeführer habe die Gehörsverletzung nicht geltend gemacht und vorbehaltslos an der Verhandlung teilgenommen. Fraglich bleibt, ob der Beschwerdeführer deswegen sein Recht verwirkt hat, sich auf einen (allfälligen) Verfahrensmangel zu berufen. Aus seiner Rechtsunkenntnis kann er indes keine Vorteile für sich ableiten (vgl. BGE 136 V 331 E. 4.2.3.1; BGer 5A_240/2011 vom 6.7.2011 E. 6.5, FamPra.ch 2011, 1002). Weiter kann der Beschwerdeführer sich nicht mit Erfolg auf die richterliche Fragepflicht (Art. 56 ZPO) berufen: Auch bei nicht anwaltlich vertretenen Parteien dient diese nicht dazu, prozessuale Nachlässigkeiten auszugleichen (vgl. BGer 4A_228/2018 vom 5.11.2018 E. 4.3). Damit ist es nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht zum Schluss gelangte, der Beschwerdeführer habe sich nach der Verhandlung nicht mehr auf den (allfälligen) Verfahrensmangel berufen dürfen. Folglich hilft dem Beschwerdeführer auch das Schreiben nicht weiter, das er nach der Verhandlung an das Gericht adressiert hat, denn allfällig damit vorgebrachte Einwände bereits verspätet erfolgten.

2019-N7 Geltendmachung eines Mangels der Vorladung: Anforderungen und Rechtsfolgen
Bem. F. Bastons Bulletti

1 Gemäss Art. 134 ZPO müssen Vorladungen grundsätzlich mindestens zehn Tage vor dem Erscheinungstermin versandt werden. Die in dieser Norm vorbehaltenen gesetzlichen Bestimmungen finden sich nicht in der ZPO, sondern in anderen Gesetzen (z.B. Vorladungsfrist von drei Tagen für die Konkursverhandlung, vgl. Art. 168 SchKG); zudem wird eingeräumt, dass die Vorladungsfristen im Summarverfahren im Allgemeinen, insb. in dringenden Fällen, kürzer sein können (vgl. Anm. unter Art. 134, insb. BGer 5A_120/2012 vom 21.6.2012 E. 3.3). Die Missachtung einer Vorladungsfrist stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar (BGE 131 I 185 E. 2.1).

2 Das in einer Fünferbesetzung gefällte Urteil bestätigt einen im Bereich der Verfahrensmängel, inkl. der Verletzung des rechtlichen Gehörs, schon lange aufgestellten Grundsatz: Treu und Glauben verlangt, den Mangel sofort ab Kenntnisnahme zu rügen; dieser darf nicht als (in der Hinterhand behaltener) Vorwand dazu dienen, um im Falle eines späteren Unterliegens die Aufhebung eines Entscheids zu erwirken (vgl. Anm. unter Art. 52, B.a., insb. BGE 138 III 97 E. 3.3.2; auch Anm. unter Art. 53 Abs. 1, E.b.b.). Wie das BGer hier betont, findet dieser Grundsatz selbstverständlich auch auf eine Vorladung Anwendung, die mangels Einhaltung der sich aus Art. 134 ZPO ergebenden zehntägigen Frist mangelhaft ist. In dieser Hinsicht erscheinen uns die in der Lehre befürworteten und im Urteil in Erinnerung gerufenen Anforderungen gerechtfertigt.

3 Das BGer wendet diese Anforderungen hier strikt an. So hatte im vorliegenden Fall der Beschwerdeführer, der trotz des Mangels in der Vorladung zur Verhandlung erschienen war, an dieser Verhandlung erklärt, die Vorladung sei seiner Meinung nach sehr kurzfristig erfolgt. Zwar wies er damit nicht zwingend darauf hin, er hätte keine Zeit gehabt, um sich auf die Verhandlung vorzubereiten; nun hat aber der Gesetzgeber die Frist in Art. 134 ZPO gerade zu diesem Zweck vorgesehen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Partei den Mangel in der Vorladung nicht klar gerügt hatte. Allerdings war sie nicht anwaltlich vertreten, sodass sie möglicherweise die Regel von Art. 134 ZPO ebenso wenig kannte wie die Möglichkeit, eine Verschiebung der Verhandlung zu verlangen.

4 Auch hielt das BGer fest, die gerichtliche Fragepflicht (Art. 56 ZPO) sei nicht verletzt worden, was uns zu strikt erscheint: Einerseits ist diese Pflicht gegenüber einem nicht anwaltlich vertretenen Laien stärker ausgeprägt (vgl. Anm. unter Art. 56, B., insb. BGer 4A_301/2013 vom 6.1.2014 E. 6.2). Andererseits war die Partei im vorliegenden Fall nicht etwa bloss erschienen, ohne etwas zu sagen, sondern sie hatte auf die kurze Vorladungsfrist hingewiesen – zwar ohne formell vorzubringen, diese Frist hätte nicht genügt, um sich vorbereiten zu können –, nachdem sie die Frage des Richters verneint hatte, ob sie Einwendungen gegen den in Aussicht gestellten Verfahrensablauf erhebe. Damit war u.E. ihre Erklärung unklar und zudem gegenüber ihrer vorherigen Antwort widersprüchlich. Wir sind daher der Ansicht, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 56 ZPO erfüllt waren, und der Richter in Ausübung seiner Fragepflicht die Partei den Sinn ihres letzten Hinweises hätte präzisieren lassen müssen, um zu prüfen, ob sie sich darüber beschwerte, für die Vorbereitung der Verhandlung zu wenig Zeit gehabt zu haben, oder ob sie einen anderen, nicht relevanten Nachteil rügte. Eine diesbezügliche Frage rechtfertigte sich umso mehr im Kontext eines dem Gericht zuzurechnenden Mangels in der Vorladung. Gegebenenfalls hatte der Richter in diesem Fall entweder die Verhandlung verschieben oder der Partei eine Nachfrist zur weiteren Stellungnahme ansetzen können.

N 5 Auch wenn das Obergericht davon ausgegangen wäre, die Verletzung des rechtlichen Gehörs sei durch das Erscheinen des Beschwerdeführers an der Verhandlung nicht geheilt worden, hätte dieser Mangel jedoch nicht zwingend zur Aufhebung des Entscheids geführt – übrigens scheint es, dass der Beschwerdeführer im Berufungsverfahren einzig um die Wiederholung der Verhandlung ersucht hatte (vgl. Sachverhalt, B.). Da der Betroffene eine Berufung, nämlich ein Rechtsmittel mit voller Kognition, erhoben hatte, hätte die Missachtung der Vorladungsfrist – die keinen schweren Mangel darstellte, da der Beschwerdeführer ohnehin zum Termin erschienen war und an diesem, wenn auch unvollständig, angehört worden war – im Berufungsverfahren durch die Möglichkeit geheilt werden können, sich vernehmen zu lassen und gegebenenfalls (entschuldbare i.S.v. Art. 317 Abs. 1 lit. b ZPO) unechte Noven vorzubringen, die der Berufungskläger in der erstinstanzlichen Verhandlung mangels genügender Möglichkeit, diese vorzubereiten, nicht hatte vorbringen können (zur Heilung des rechtlichen Gehörs im Berufungsverfahren vgl. Anm. unter Art. 53 Abs. 1, E.b.a.); allenfalls hätte sogar eine erneute Verhandlung angesetzt werden können (Art. 316 Abs. 1 ZPO).

6 Jedenfalls ist die Ausübung der richterlichen Fragepflicht in der vorliegenden Konstellation jedenfalls dann nicht geboten, wenn die Partei anwaltlich vertreten ist. Kommt der Anwalt der Vorladung nach, statt bei deren Erhalt die Verschiebung des Termins zu verlangen (Art. 135 ZPO), oder wird seinem Verschiebungsantrag nicht entsprochen, so muss er dafür sorgen, dass er spätestens zu Beginn der Verhandlung ausdrücklich und sehr klar behauptet, er habe keine Zeit gehabt, sich gehörig vorzubereiten, und er behalte sich weitere Stellungnahmen vor. Insofern als die Vorladungsfrist nach Art. 134 ZPO im Summarverfahren nicht in allen Fällen Anwendung findet (s. oben N 1), wäre es u.E. hingegen unvorsichtig, einer vor der Verhandlung empfangenen mangelhaften Vorladung keine Folge zu leisten und mit einer nachträglichen Wiederherstellung des Fernbleibens (Art. 148 ZPO) zu rechnen. Erreicht hingegen die mangelhafte Vorladung die Partei oder ihren Rechtsvertreter nicht rechtzeitig, ist die Verhandlung ungültig und muss wiederholt werden; ebenfalls ist ein sofort nach dieser Verhandlung gefällter Entscheid aufzuheben.

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2019-N7, Rz…

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