Direkte Übermittlung einer Rechtsmittelschrift zwischen Anwälten – Wer verursacht die (allfälligen) unnötigen Kosten?

OGer/SO vom 10.12.2018 (ZKBER.2018.61) E. 7

Art. 106 Abs. 1, 107, 108, 96 - EINREICHUNG, DANN RÜCKZUG EINER BERUFUNG – DEN BERUFUNGSBEKLAGTEN VOM RECHTSVERTRETER DER BERUFUNGSKLÄGER BEREITS MITGETEILTE BERUFUNGSEINGABE – ANSPRUCH DER BERUFUNGSBEKLAGTEN AUF EINE PARTEIENTSCHÄDIGUNG?

[Einreichung, einer Berufung – Zurückziehung bevor das Berufungsgericht den Berufungsbeklagten die Berufungseingabe zustellt – Von den Berufungsbeklagten verlangte Parteientschädigung] Im vorliegenden Fall mussten die Beklagten lediglich zwei Verfügungen entgegennehmen, nämlich diejenige mit der Mitteilung, dass eine Berufung eingereicht wurde, sowie diejenige mit dem Inhalt, dass die Berufung wieder zurückgezogen wurde. Der Aufwand, welcher die blos¬se Kenntnisnahme dieser beiden Mitteilungen verursacht, ist derart gering, dass sich dafür die Zusprechung eines Kleinstbetrages kaum rechtfertigt. Ohnehin gehört die Feststellung, ob die Anfechtungsfrist ungenutzt abgelaufen oder doch ein Rechtsmittel – in der Regel am letzten Tag der Frist – ergriffen worden ist, noch zu den Abschlussarbeiten des erstin¬stanzlichen Verfahrens und wird durch die dort zugesprochene Parteientschädigung abgegolten. Ausserdem hatte die Rechtsmittelinstanz den Berufungsbeklagten die Berufung noch gar nicht zugestellt. Dass der Vertreter der Berufungsklägerinnen den Vertretern der Berufungsbeklagten kollegialiter eine Kopie der Berufung hat ¬zukommen lassen, hat diesen erste Überlegungen und Vorbereitungen ermöglicht und im Grunde genommen die Berufungsantwortfrist zu ihren Gunsten verlängert. Es wäre unbillig und stossend, wenn gerade dieses kollegiale Verhalten zum Anknüpfungspunkt für die Zusprechung eine Parteientschädigung herangezogen würde. Die vorsorglich gestützt auf die Kollegenkopie geleisteten Verrichtungen sind von den eigenen Klienten [Berufungsbeklagten] zu tragen. Dieser Aufwand kann nicht den Berufungsklägerinnen angelastet werden, da sie im Zeitpunkt, zu dem er erbracht wurde, noch nicht erforderlich war.

2019-N30 – Direkte Übermittlung einer Rechtsmittelschrift zwischen Anwälten – Wer verursacht die (allfälligen) unnötigen Kosten?
Bem. F. Bastons Bulletti

1 Nachdem das erstinstanzliche Gericht ihre Klage für unzulässig erklärt hatte, reichten die Kläger eine Berufung ein; zwei Wochen später ziehen sie diese zurück. In diesem Zeitpunkt hatte das Obergericht die Berufungsschrift den Berufungsbeklagten noch nicht zugestellt. Allerdings hatten diese von jener Kenntnis, da der Rechtsvertreter der Berufungskläger dem Rechtsvertreter der Berufungsbeklagten eine Kopie dieser Eingabe kollegialiter zukommen liess. Nach dem Rückzug der Berufung werden die Berufungsbeklagten dazu aufgefordert, ihre Kostennote einzureichen.

2 Trotzdem weist der Präsident des befassten Hofs deren Antrag auf eine Parteientschädigung ab. Einerseits geht er davon aus, dass der in diesem Stadium des Verfahrens nötige Aufwand – nämlich die Kenntnisnahme der Mitteilungen des Obergerichts, wonach die Berufung eingereicht bzw. zurückgezogen worden ist – geringfügig war; andererseits gehöre dieser Aufwand noch zu den erstinstanzlichen Abschlussarbeiten, sodass er durch die bereits gewährte Parteientschädigung abgegolten sei; denn der Rechtsanwalt könne seinem Klienten seine Schlussrechnung solange nicht zustellen, als er nicht wisse, ob ein Rechtsmittel eingereicht worden ist. Schliesslich sei jeder weitere Aufwand der Berufungsbeklagten darauf zurückzuführen, dass der Rechtsvertreter der Berufungskläger seinem Kollegen eine Kopie seiner Berufungsschrift zukommen liess. Da die Berufungsbeklagten – wäre die Berufung aufrechterhalten worden – damit in den Genuss einer Verlängerung der Frist zur Berufungsantwort gelangten wären, dürfen sie nicht davon profitieren, um unter diesem Titel eine Parteientschädigung zu verlangen. Sofern sie weitere Schritte ergriffen hätten – was aus dem Urteil nicht klar hervorgeht –, werden diese mit der Begründung nicht entschädigt, sie seien (noch) nicht notwendig gewesen und von den Berufungsbeklagten zu tragen.

3 Es ist unbestreitbar, dass die Berufungskläger, die ihre Berufung zurückgezogen haben, als unterliegende Partei i.S.v. Art. 106 Abs. 1 ZPO zu betrachten sind, die somit die nach dem kantonalen Tarif (Art. 96 ZPO) festgesetzten Kosten der Berufungsinstanz zu tragen haben (vgl. BGE 145 III 153 E. 3.2.2 und 3.3.2, Anm. unter Art. 106, A. und in Newsletter 2019-N10). Allerdings erlaubt Art. 107 ZPO, von den Verteilungsregeln in Art. 106 ZPO insb. aus Billigkeitsgründen (Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO) abzuweichen. Zudem sind gemäss Art. 108 ZPO unnötige Prozesskosten von jener Person zu tragen, die sie verursacht hat. Im vorliegenden Fall scheint der Richter den Aufwand zur Vorbereitung der Berufungsantwort als unnötige – weil verfrühte – Kosten erachten zu haben und davon ausgegangen zu sein, diese Kosten seien von den Berufungsbeklagten selbst und nicht von den Berufungsklägern verursacht worden, deren Rechtsvertreter die Berufungsschrift den Berufungsbeklagten mitgeteilt hatte.

4 Zwar ist die gewählte Lösung vertretbar. Allerdings ist zu bemerken, dass das OGer/ZH in der gleichen Konstellation eine andere Lösung befürwortet hat: Es erachtete den vom Rechtsvertreter des Berufungsbeklagten geleisteten Aufwand – nämlich das Studium der Berufungsschrift und deren Zustellung an seinen Klienten – als unnötige Kosten i.S.v. Art. 108 ZPO und zog in Betracht, diese Kosten nicht dem Klienten, sondern der Rechtsanwältin aufzuerlegen, die die Berufungsschrift – zum Nachteil der Interessen ihres Klienten – ihrem Kollegen mitgeteilt hatte; dabei ging das OGer davon aus, die Anwältin habe damit diese Kosten verursacht (OGer/ZH vom 27.8.2012 [LC120025-O/Z01], Anm. unter Art. 108, B.2.b.).

5 Das BGer könnte im gleichen Sinn wie das Zürcher Obergericht entscheiden. In einer ähnlichen Konstellation – in der das Gericht und nicht der Kläger die Eingabe dem Beklagten formell zugestellt hatte, bevor der Kläger auf die Leistung des Prozesskostenvorschusses verzichtete – beurteilte es für den Fall, dass das Gericht die Klageschrift vor der Leistung des Prozesskostenvorschusses durch den Kläger zustellt und eine Frist zur Klageantwort ansetzt, der Kläger, der diesen Kostenvorschuss schliesslich nicht leistet, dies sich selbst – und nicht dem Gericht oder der Gegenpartei, die bereits mit der Vorbereitung der Klageantwort begonnen hat – zuzuschreiben und den Beklagten zu entschädigen hat. Denn es ist weder Sache des Gerichts noch der Gegenpartei, dafür zu sorgen, dem Kläger die Kosten seines letztlich unnötigen Aufwands (Vorbereitung der Klageantwort) zu ersparen (BGE 140 III 159 E. 4.2.1, Anm. unter Art. 108, B.2.c.). Erst vor kurzem hat das BGer zudem entschieden, dass der Berufungskläger, der seine Berufung zurückzieht – und nicht der Berufungsbeklagte selbst – die Kosten der Anschlussberufung des Berufungsbeklagten grundsätzlich zu tragen hat. Denn es ist der Berufungskläger, der diese Kosten verursacht hat, da die Anschlussberufung ohne diese Berufung nicht eingereicht worden wäre (BGE 145 III 153 E. 3.3–3.4, Anm. unter Art. 108, B.1., unter Art. 313 Abs. 2 und in Newsletter 2019-N10).

6 Zudem ist zu betonen, dass die Zustellung von Eingaben an einen Kollegen nicht mehr unter den standesrechtlichen Pflichten der Anwälte figuriert. In seiner Versammlung vom 22.6.2012 hat der SAV Art. 25 seiner Standesregeln (SSR) aufgehoben, gemäss dem Rechtsanwälte der Rechtsvertretung der Gegenpartei unaufgefordert Kopien ihrer Eingaben zustellen müssen (vgl. Anm. unter Art. 53 Abs. 1, C.a. und unter Art. 312 Abs. 1). Denn die direkte Zustellung ist einerseits dann nicht nötig, wenn das Gericht die Eingabe ohnehin der Gegenpartei zustellen wird – was es grundsätzlich tun muss, um deren rechtliches Gehör zu wahren, vgl. Anm. unter Art. 53 Abs. 1, C.a.; vorbehalten bleiben die Bestimmungen, wonach es dem Gericht erlaubt ist, eine Eingabe für unzulässig oder unbegründet zu erklären, bevor diese der Gegenpartei zugestellt wird (s. Art. 253, 312, 322 und 330 ZPO). Andererseits kann die direkte Zustellung einer Rechtsmittelschrift die Interessen des eigenen Klienten in zweierlei Hinsicht gefährden. Denn (1) ist die Frist zur Berufungs- oder Beschwerdeantwort eine gesetzliche Frist, die nicht erstreckt werden kann (Art. 312 Abs. 2, 314 Abs. 1 und 322 Abs. 2 i.V.m. Art. 144 Abs. 1 ZPO). Stellt nun aber der Rechtsvertreter des Rechtmittelklägers der Gegenpartei seine Eingabe zu, bevor das Gericht dies tut, erlaubt er ihr, grundlos von einer Antwortfrist zu profitieren, die länger ist als die gesetzliche Frist, die sein eigener Klient einhalten musste (Art. 311 Abs. 1, 314 Abs. 1 und 321 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 144 Abs. 1 ZPO); (2) wird die vom Anwalt zugestellte Eingabe zurückgezogen oder für offensichtlich unzulässig oder unbegründet erklärt, wird sich – wie gerade im vorliegenden Fall – die Frage nach der Tragung der Kosten stellen, die der Gegenpartei bei der Vorbereitung ihrer Verteidigung bereits entstanden sind.

7 Nach Art. 108 ZPO werden die unnötigen Kosten jener Person auferlegt, die «sie verursacht hat». In der hier erörterten Konstellation liegt es nicht ohne weiteres auf der Hand, wer die unnötigen Kosten des Rechtmittelbeklagten verursacht hat. Allerdings erfolgt in allgemeiner Weise die Verteilung der Kosten nach Art. 106 ff. ZPO gemäss dem in Art. 108 ZPO zum Ausdruck gebrachten Grundsatz der Kausalität. Nun beruht aber – wie dies das BGer kürzlich präzisiert hat – der sich aus Art. 106 ZPO ergebende Grundsatz der Kostenverteilung nach dem Erfolg auf dem Gedanken, dass die Prozesskosten von deren Verursacher zu tragen sind, wobei vermutet wird, dass die unterliegende Partei die Kosten verursacht hat (BGE 145 III 153 E. 3.3.1, Anm. unter Art. 106, A.). Diese Vermutung muss u.E. auch in der vorliegenden Konstellation gelten. Auch wenn der Ansatz des OGer/ZH und – vermutlich – des BGer ein kollegiales Verhalten zu ahnden scheint, steht dieser Ansatz u.E. mit der Regelung der ZPO eher im Einklang; auch Billigkeitsgründe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO scheinen uns grundsätzlich keine andere Verteilung nahezulegen. Zwar kann man – wie sinngemäss der Solothurner Richter – die Ansicht vertreten, dass der Rechtsvertreter des Rechtsmittelbeklagten, der eine Kopie der Eingabe erhält, wissen muss, dass er eine Antwort erst dann wird einreichen müssen, wenn ihm dazu eine Frist gesetzt worden ist, und allfällige zuvor verursachte Kosten unnötig sein können. Allerdings muss der Rechtsvertreter des Rechtmittelklägers seinerseits wissen, dass er im Interesse seines eigenen Klienten die Eingabe nicht der Gegenpartei zuzustellen hat, ansonsten er dieser damit faktisch eine Fristverlängerung verschafft; nun muss aber das Interesse seines Klienten den Vorrang vor der Kollegialität haben (zumal diese in diesem Kontext nicht mehr gilt, vgl. N 6; im Übrigen « [darf] die Kollegialität die Interessen der Mandanten nicht beeinträchtigen», vgl. Art. 24 Abs. 2 SSR). Zudem kann der Rechtsvertreter, dem die Eingabe seines Kollegen zugestellt wird, diese bis zur formellen Zustellung der Rechtsschrift durch das Gericht kaum ignorieren. Das Interesse seines eigenen Klienten kann ihm gebieten, die zugestellte Eingabe zumindest zu lesen und seinen Klienten darüber zu informieren und allenfalls sogar mit der Vorbereitung einer Antwort zu beginnen, ohne den Beginn der (gesetzlichen) Frist abzuwarten, z.B. dann, wenn in der Begründung des Aktes Noven oder neue Argumente enthalten sind, zu denen der Rechtsmittelbeklagte seinerseits Behauptungen vorbringen und Beweise sammeln muss. Unter diesen Umständen erscheint es uns sachgerechter, grundsätzlich davon auszugehen, dass die aus diesem Aufwand entstandenen Kosten von der Partei – und sogar vom Rechtsanwalt selber – verursacht worden sind, der die Eingabe zu Unrecht dem Rechtsvertreter der Gegenpartei zugestellt hat, und dies umso eher, wenn sich auch die Beendigung des Verfahrens aus dem eigenen Entscheid des (Rechtsmittels-)Klägers ergibt. In Erwartung eines allfälligen Urteils des BGer – das jedoch insofern nur mit grosser Zurückhaltung eingreift, als der Richter sein weites Ermessen ausgeübt hat – ist den Rechtsanwälten jedenfalls zu empfehlen, im Zivilprozess vorsichtshalber von der Zustellung von Eingaben an ihre die Gegenpartei vertretenden Kollegen abzusehen.

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2019-N30, Rz…

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